Der Zaunkönig

Alle Menschen, die im Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund lebten, hatten ein hübsches kleineres oder größeres Grundstück und um dieses Grundstück war eine schnurgerade Grundgrenze gezogen, auf der ein ordentlich gestrichener Zaun stand – mal aus Holz, mal aus Draht und manchmal auch mit Kletterrosen bewachsen. Um jemanden zu besuchen, musste man am Gartentor läuten und bei Ertönen des Summens die gut geölte Gartenpforte öffnen, durch eine bienenumschwärmte Pergula oder zwei streng frisierte Buxbaumwächter hindurchtreten und dann dem kiesbestreuten Weg zum Haus folgen. Die Erwachsenen fanden das gut so. Die Kinder fanden das langweilig und unpraktisch.

Ach, wenn wir doch keine Zäune hätten, sagten sie, während sie sehnsüchtig einem Zaunkönig zuschauten, der auf einem Pfosten saß und vor sich hinsang, und dann quer über die Gärten davonflatterte. Ach wenn wir doch höhere Zäune hätten, sagten die Erwachsenen, die es nicht leiden konnten, dass jemand einfach so – ohne zu fragen –  über ihren Garten dahinflatterte.

Die Kinder hatten in ihrer Not schon viele neue Spiele erfunden. Zum Beispiel spielten sie Ball über den Zaun oder steckten sich Geheimbotschaften und Gummibärchen zwischen den Latten und Maschen durch. Aber irgendwann wurde das auch zu langweilig. Und als die Kinder größer und die Zäune im Vergleich dazu kleiner wurden, begannen sie, darüber zu klettern, wenn die Erwachsenen gerade mit anderen Dingen wie Steuererklärungen oder Leserbriefen beschäftigt waren. Allerdings konnte das nicht lange unbemerkt bleiben, weil die Holzzäune den Kletterpartien zwar ganz gut gewachsen waren, die Maschendrahtzäune jedoch bald ihre Spannung einbüsten. Die Kinder hatten auch schnell bemerkt, dass Kletterrosen, trotz ihres Namens, nicht allzugut für sportliche Betätigung geeignet waren.

Und die Erwachsenen nahmen also ihre Kinder beiseite und erklärten ihnen, dass die Zäune zu ihrem eigenen Schutz da wären, und dass es wichtig sei, gut auf sie aufzupassen. Schutz wovor, fragten die Kinder mit großen Augen. Na vor dem, was dahinter ist, sagten die Erwachsenen vage. Andere Kinder und Erwachsene, fragte die Kinder verblüfft. Und die Erwachsenen wanden sich mit schlechtem Gewissen aus der Affäre, indem sie die Kinder ans Hausübung-Machen oder Zimmer-Aufräumen erinnerten, und verdrängten die Erinnerung an jenen verblassenden Tag, an dem sie frierend und hungrig auf der Straße vor den Zäunen gestanden waren.

Die Kinder aber beschlossen, es selbst einmal anders zu machen.

***

Fünfzig Jahre später hatten alle Menschen, die im Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund lebten, ein hübsches kleineres oder größeres Grundstück. Die Grundgrenzen waren längst von Marghariten und Hahnenfuß überwachsen und um jemanden zu besuchen, konnte man einfach über die Wiese gehen und an die Tür klopfen. Alles, was im Garten lag, konnte von allen verwendet werden, und niemand hatte etwas vor den anderen zurückzuhalten. Das fanden alle gut so. Vor allem die Kinder, die in ihren ausgedehnten Spielen frei von Garten zu Garten liefen und überall freundlich empfangen wurden, in manchen Gärten sogar mit Kuchen und Himbeersaft, was dazu führte, dass sie sich dort besonders gerne aufhielten.

Bis eines Tages alles anders war.

Die Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund erwachten am Morgen und auf der Straße standen Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Sie sahen müde und hungrig aus und redeten in Sprachen, die die Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund nicht verstanden. Da sie aber großteils sehr offen und hilfsbereit waren, luden sie die Menschen in ihre Gärten ein, gaben ihnen zu essen und zu trinken, bauten Zelte für sie, damit sie sich ausruhen konnten, und schenkten den Kindern Spielsachen.

Am nächsten Morgen standen noch mehr müde, hungrige Menschen auf der Straße. Und wieder wurden sie hereingebeten, auch wenn es in manchen Gärten schon etwas eng wurde. Als aber am dritten Tag noch mehr Menschen auf der Straße standen, und mit ihren Blicken um Hilfe baten, begannen einige der Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund allmählich unruhig zu werden.

In meinem Garten ist schon alles voll, hieß es plötzlich von einer Nachbarin, die Angst um ihre üppige Tomatenernte hatte.

Bei mir ist auch kein Platz mehr, ließ sich ein anderer Nachbar vernehmen, der seine private Minigolfbahn bedroht sah.

Und so ging es immer weiter und immer mehr Stimmen vereinten sich zu einer wirren Kakophonie, die die Menschen auf der Straße abschrecken und in die anderen Gärten umleiten sollte. Weil das alleine aber nicht reichte, begannen viele Menschen provisorische Zäune aufzustellen, die ihre Grundgrenze markieren und andere am Betreten hindern sollten. Und die müden hungrigen Menschen drängten in die wenigen Gärten, die noch für sie offen standen und es war dort mittlerweile so eng geworden, dass sich kaum noch jemand bewegen oder einen Überblick behalten konnte. Und jeden Morgen standen mehr Menschen auf der Straße und wollten in die Gärten eingelassen werden, weil sie ihre eigenen Gärten verloren hatten.

Und aus den provisorischen Zäunen wurden blickdichte Mauern mit Glassplitterzinnen, gespickt mit Überwachungskameras. Und die Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund, die im Inneren dieser Festungen saßen, fühlten sich endlich wieder sicher. Die Kinder aber fanden die Mauern außerordentlich dumm. Die Erwachsenen erklärten ihnen geduldig, dass sie nur zu ihrem eigenen Schutz da wären. Schutz wovor denn, fragten die Kinder. Und die Erwachsenen stellten mit Schrecken fest, dass sie selbst mit ihren eigenen Eltern eben dieses Gespräch geführt und sich daraufhin geschworen hatten, es selbst einmal anders zu machen. Aber dann unterdrückten sie das schlechte Gewissen und schickten die Kinder Hausaufgaben machen oder Zimmer aufräumen.

Die Kinder aber beschlossen, es selbst einmal ganz anders zu machen.


(2016)