Sturmbraut

Eleonora Herbst war im Lehnstuhl eingenickt. Das Buch in ihren schlaffen Händen rutschte im Takt der Pendeluhr Millimeter für Millimeter die sanfte Neigung ihrer Oberschenkel entlang. Dabei hatte sie wach bleiben wollen, für den Fall, dass er zurückkehrte.

Der unterrockartige Lampenschirm auf dem hohen Messingfuß streute weiches Licht in den Raum. Ein Blinzeln lang imitierte die Glühbirne das Flackern einer Kerzenflamme. Die Buchseiten flatterten im Luftzug, der durch die haarfeine Ritze unter dem Fenster gekrochen kam. Ein kühler Gruß. Er war im Anmarsch.

Das Gartentor quietschte. Doch er kam nicht über den Kiesweg. Seine Schritte waren lautlos. Und Eleonora Herbst schlummerte unbekümmert. Unter dem gehäkelten Schultertuch hob und senkte der Atem ihren schmalen Brustkorb, samt dem dicken weißen Zopf, der darauf ruhte. Nur das Buch näherte sich unaufhaltsam den schroffen Klippen ihrer Knie, die sich unter dem geblümten Stoff des Morgenmantels abhoben.

In der Pendeluhr ratterte das Gewicht einen Zahn höher. Noch ein Flackern. Die Schatten sprangen aufgeregt durch den Raum. Eleonora Herbst seufzte im Schlaf. Und ein Ächzen ging durch das Haus, breitete sich vom Lehnstuhl über Böden und Wände aus. Die uralten Holzdielen gähnten, die dunklen Deckenbalken stöhnten, ein wenig Kalk rieselte neben dem gerahmten Schwarz-Weiß-Foto von der Wand.

Es zeigte einen jungen Mann in Soldatenuniform mit kurz geschorenem Haar und einem Orden an der Brust. Er hielt sich aufrecht wie ein Sarg, mit geschlossenen Beinen, die Stiefelspitzen leicht nach außen gedreht und blickte auf die Schlafende herab, als wollte er ihr im nächsten Moment befehlen, Habtacht zu stehen.

Das Buch schwebte bis zur Hälfte über dem Abgrund, hielt sich in einer fragilen Balance. Etwas klapperte gegen die Scheibe. Der linke Fensterladen hing lose vom letzten Besuch. Kaputtmachen, das konnte er. Und er verstand weder Bitten noch Drohungen, hatte Eleonora Herbst als Antwort bloß an den Haaren gerissen, ihr das Tuch von den Schultern geschleudert. Vergessen waren die Verspieltheiten von einst, der geflüsterte Austausch von Neckereien. Sein dröhnendes Lachen hatte ihren Fluch verschlungen.

Doch Eleonora Herbst wusste sich zu schützen. Er mochte toben wie er wollte, ihr die geliebten Winden herunterreißen oder die frische Bettwäsche von der Leine stehlen, aber ins Haus ließ sie ihn nicht mehr. Zu jeder Jahreszeit hielt sie Fenster und Türen fest verschlossen und kein Heulen, kein Knurren, kein Klopfen konnte sie erweichen.

Da mochten die Leute denken, was sie wollten. „Aber Frau Herbst, es ist Frühling“, hatten sie gespottet, bevor sie ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Sie war sich selbst genug und die Welt jenseits ihres Gartens kümmerte sie nicht mehr.

Das Buch wankte auf den Knieklippen, unentschlossen zwischen Ruhe und Sturz. Alles verharrte in angespannter Stille. Dann ein Knall. Der Fensterladen hatte sich gänzlich losgerissen. Eleonora Herbst schreckte hoch. Die Sekunden liefen mit einem Mal schneller durch die Pendeluhr. Echoten gehetzt durch ihren Brustkorb. Das Licht aus der Lampe zitterte und erlosch. Das Buch stürzte ins Dunkel.

Eleonora Herbst spürte winzige Gänsefüßchen über ihre Unterarme trippeln. Ihre linke Hand tastete nach der Schnur mit der seidigen Quaste, aber die Lampe blieb dunkel. Kälte kroch ihre Beine herauf. Sie hörte ihn ums Haus schleichen, horchte mit angehaltenem Atem.

Er trommelte ans Fenster. Sehen konnte er sie nicht, aber er musste wissen, dass sie da saß, in der Finsternis, die er wie ein engmaschiges Netz über sie geworfen hatte. Er rüttelte kräftig am Fensterrahmen, ließ das Glas beben, dann stieg er weiter, prügelte die blecherne Regenrinne und orgelte auf ihrem Dach, die Kamine, Rohre und Ritzen zu seinen gefügigen Pfeifen missbrauchend. Sein Spiel peitschte eisig durch Eleonora Herbsts Knochen. Die Schwärze drückte auf ihre Kehle.

Ein paar Schindeln polterten auf den Weg. Sie hörte sein Lachen ums Haus brausen und zwang sich mit grimmiger Entschlossenheit aus ihrer Starre. Die Dunkelheit schmeckte schal, doch Eleonora Herbst sog sie ein, bis die Lungenflügel prall waren, und stieß sie mit einem kleinen Schrei wieder aus.

Ihre rechte Hand tastete nach dem geschwungenen Messinggriff der Kommode. Ihre Fingerkuppen berührten den kühlen Lack. Holz rieb sich an Holz, als sie die oberste Lade ein Stück weit herauszog. Ihre Finger glitten über den Kunststoffgriff der Lupe, über die Pillendose mit dem gewölbten Deckel, über einen kleinen Vorrat quadratisch gefalteter Stofftaschentücher – und fanden.

Eleonora Herbst knipste die Taschenlampe an und blinzelte einen Moment in den Kegel aus Licht, der sich schützend zwischen sie und die Schatten stemmte. Dann senkte sie den Strahl und streckte sich nach dem Buch. Ihre Fingerspitzen berührten den Einband. Sie spürte ein dumpfes Stechen im Rücken, dehnte sich noch weiter und bekam das Lesebändchen zu fassen. Mit einem angestrengten Ruck richtete sie sich auf und das Buch raschelte anklagend mit den verknitterten Seiten. Sie streifte besänftigend über das aufgewühlte Papier und blätterte nach der richtigen Stelle.

Der Soldat auf dem Foto beobachtete sie dabei, als wollte er ihr jeden Moment das Buch aus den Händen schlagen. Eleonora Herbst räkelte sich in der weichen Polsterung und rückte die Taschenlampe zurecht. Sollte er doch poltern. Sie hatte die richtige Seite gefunden.

Die Pendeluhr schlug 3. Aber Eleonora Herbst hörte weder die Zeit noch den einsetzenden Regen. Sie hörte auch nicht, wie das Bild von der Wand fiel und das Glas in tausend Stücke zersprang.


Aus: (2019) Wind. Herausgegeben von Forum Land, Arbeitskreis Kultur in den Dörfern. Wien: Österreichischer Agrarverlag, S. 25-27.