Die kleinere Angst

Im Schein der Duftlampe, die den Raum in einen luftigen Lavendelschleier hüllt, tanzt das Mobile über dem Kinderbett und wirft verzerrte Schatten an die Wände. Die Spieluhr verklingt im Schweigen der Wartenden. Die Elefanten und Giraffen auf der Tapete blicken auf und lauschen. Zwischen den Kuscheltieren auf dem Regal erhebt sich ein feines, flüsterndes Rascheln. Alle halten den Atem an, sogar die rote Lokomotive in ihrem Bahnhof aus Legosteinen.

Das Kind regt sich, bewegt sich und strampelt die Decke von sich, greift mit beiden Armen nach kühler Luft und klatscht sie sich ins Gesicht. Die Fische auf dem Mobile fliehen vor der  Hitze der Wangen. Zwei salzig glitzernde Fäden tränken das durstige Rot. Die Teddybären recken tröstend die Pfoten nach dem Kind, aber es sieht nicht.

Zitternd steigt es aus dem Bett, kämpft um das Gleichgewicht und um den Atem und kniet neben dem Puppenwagen nieder. Lotte ist die einzige, die noch schläft. Niemand hat gewagt, sie zu wecken. Und auch das Kind streicht ihr so sanft über die schwarzen Stirnfransen, dass sie in ihren Träumen nicht gestört wird. Alle wissen, dass sie noch früh genug erwachen wird.

Es regnet leise auf Lottes schöne, weiße Hände, als sie zärtlich aus ihrer Ruhestatt gehoben wird hinein in eine schützende Umarmung.

Das Kind schiebt die Vorhänge zur Seite und blickt in die Schwärze hinaus. Einige schwere Atemzüge lang wartet es voll Furcht. Dann tritt der Mond blass und krank aus seinem Wolkenbett und winkt. Und alle wissen, dass der Abschied nahe ist. Die Giraffen und Elefanten schweigen vor Schreck, die Teddybären und die rote Lokomotive bleiben stumm in ihrem Kummer.

Das Kind öffnet das Fenster. Ein Stern ist aufgegangen. Ein kleiner, roter Stern, der sich mit aller Kraft an den schwarzen Samt des Himmels krallt. Er darf noch nicht fallen, denn er muss den Weg weisen. Die Kerze in der Duftlampe flackert, als der Wind ins Zimmer fährt und die Vorhänge bauscht. Die Lavendelwolke verschmilzt mit dem Atem der Lichtlosigkeit und folgt den Fliehenden in die Nacht.

Das Zimmer bleibt dunkel und voll Tränen zurück. Das Mobile steht still. Das vertraute Schweigen verstummt. Die Fensterscheibe starrt blind in den Raum und sieht nur endlose Leere.

Woher, wohin, wozu? Das Gras ist angenehm kühl auf den heißen Fußsohlen und der Tau stillt den brennenden Durst. Die Apfelblüten schimmern zerbrechlich durch das Dunkel des Gartens. Das Haus wird zum Schatten einer fremden Vergangenheit. Nichts als ein fahles Traumgespinst, erloschene Heimat, die sich zerstäubt wie eine Wolke im Spiel der Winde. Vergiss.

Am Gartentor wartet Anna. Sie hat ihre Puppe im Arm und weint. Das Kind geht, Lotte an sich gedrückt, neben ihr die Straße entlang. Sie gehen Hand in Hand. Beide zittern. Anna weil sie friert und das Kind weil es mit der Hitze nicht fertig wird. Beide zittern vor Angst. Die Häuser haben ihnen die Rücken zugekehrt. Die Gartenzäune knurren leise. Die Fensterhöhlen starren wie tote Augen.

Am Ende der Straße wartet Jonas. Er hat den Leiterwagen mitgebracht. Anna und das Kind betten die Puppen hinein. Dann tauchen sie zu dritt in den Nebel. Die Häuser lösen sich in milchige Fetzen auf und die Bäume knarren unsichtbar. Der rote Stern glüht durch das Dunstgespinst: Folgt mir.

Der Leiterwagen ist schwer, aber die Puppen schlafen arglos. Jonas, Anna und das Kind ziehen den Leiterwagen gemeinsam. Sie halten sich an der Hand und sie halten sich aneinander fest. Sie stolpern immer wieder. Jonas stolpert weil er müde ist, Anna stolpert weil sie schwach ist, das Kind stolpert weil es krank ist. Alle drei stolpern weil sie Angst haben. Und niemand wagt zu fragen, wohin es geht und wohin sie gehen. Im Schweigen liegt die Hoffnung, dass es auf die Antwort nicht ankommt. Aber sie kommen an die Stelle, an der sie sich fragen müssen.

Da sind drei Brücken.

Wohin wollt ihr gehen, fragt der Fluss, nach Norden, wo die sind, die euch hassen oder nach Osten wo die sind, die ihr hassen müsst?

Ist es nicht besser, fragt die Nacht, durch jenes Land zu gehen, das ihr hassen müsst, als durch jenes, in dem ihr gehasst werdet?

Wir wollen nicht gehasst werden, flüstern die Reisenden. Gebt uns ein paar Äpfel und Nüsse für den weiten Weg und einen blühenden Kirschzweig als Friedensfahne. Wir wollen nicht hassen, wir gehen durch die Mitte.

Anna zieht den Leiterwagen, Jonas schiebt den Leiterwagen. Das Kind liegt bei den Puppen im Leiterwagen, es ist so fiebrig heiß und schwach. Die Brücke liegt hinter ihnen. Aber nach der Brücke kommt nichts mehr. Es gibt keinen Mittelweg. Norden oder Osten – dazwischen ist nicht die Mitte, sondern der Abgrund. Ein Weilchen noch schleppen sie sich vorwärts. Der Weg ist steinig. Die Felder liegen wüstengleich vor ihnen. Und irgendwann bleiben sie stehen und können nicht mehr weiter. Sie nehmen ihre Puppen in den Arm. Sie nehmen sich gegenseitig in den Arm, bis ihre Arme zu schwach sind. Sie weinen, bis ihre Augen ausgetrocknet sind und ihre Kehlen keinen Laut mehr hervorbringen können.

Bei Morgengrauen heben sich die Nebel. Bald werden SIE kommen und die Puppen  fortnehmen, die sie doch beschützen wollten. Anna ist eingeschlafen. Jonas lehnt an ihrer Schulter.

Das Kind sieht Fische vorbeischwimmen und Giraffen besorgt die Hälse recken. Es riecht nach Duftlampe wie damals. Ein Gesicht schwebt herbei. Es duftet nach Lavendel.

Mutter, liebe Mutter, will das Kind rufen, du musst der Puppe helfen. Aber es ist zu schwach. Es ist selber nur mehr eine Puppe, eine schlafende Puppe, die beschützt werden muss. Die Mutter nimmt das Kind vorsichtig aus dem Bett und wiegt es in den Armen. Sie kühlt seine heiße Stirn und singt ihm ein Lied, schöner als alle Spieluhren der Welt. Die Teddybären und Fische seufzen. Die Elefanten und Giraffen lauschen still. Das Lied der Mutter trägt das Fieber fort, trägt die Angst fort und den Traum. Lotte ist in Sicherheit. Der blasse Mond huscht zurück in sein Wolkenbett und der rote Stern versinkt ungesehen im Morgenmeer.


Aus: (2010) Fieber. Herausgegeben von Forum Land, Arbeitskreis Kultur in den Dörfern. Wien: Österreichischer Agrarverlag, S. 59-62.