Lisbeth stellt einen Teller mit drei Brezeln auf den Tisch.
Wir sind aber vier, denke ich. Eine stumme Anspielung: Wer zu langsam ist, den bestraft das Leben. Schnell lange ich zu. Gwendolyn führte ihre Brezel bereits zum Mund und Lisbeth versuche noch, ihre Gier hinter gespielter Langsamkeit zu verbergen.
Nur Wynfrid macht nicht einmal Anstalten, seine Hand auszustrecken und natürlich hat es nun auch keinen Sinn mehr, denn der Teller ist leer und das Geräusch von Zähnen, die sich durch Wände aus hart gebackenem Teig graben, und das leisen Fallen von Salzkörnern auf den frischgesaugten Küchenboden erfüllen den Raum.
Wynni trägt sein Schicksal gelassen. Mir kommt es sogar vor, als blitze ein spöttischer Funke in seinem linken Auge auf. Komisch, warum gerade im linken? Wynni war schon immer eher rechts angesiedelt. Vielleicht nur, weil sich die Glühbirne darin spiegelt, weil es gar kein Spott ist. Aber ich kenne ihn zu gut, um zu wissen, dass Wynni niemals über den Dingen steht.
Der Gute. Schon im Kindergarten haben wir uns geschlagen. Wie die Zeit vergeht. Und Lisbeth! Noch in der Oberstufe habe ich sie für ihre Hasenscharte verlacht. Aber jetzt enttäuscht sie mich. Nur drei Brezeln? Ich muss innerlich den Kopf schütteln über so viel falsche Gastfreundschaft. Warum dann überhaupt Brezeln? Ohne hätten wir nun wenigstens alle das Gefühl, unerwünscht zu sein, hätten das Gespräch höflich aber bestimmt beenden und endlich nach Hause gehen können. Aber wie ein Gespräch beenden, das nie angefangen hat?
Wir verstecken uns hinter dem Krachen der Brezeln. Nur Wynni weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Ha! Jetzt ist er aber doch sauer, weil er nichts zum Festhalten hat. Allerdings muss gesagt werden, dass, so langsam ich auch versuche zu essen, meine Brezel immer weniger wird. Bald werden wir mit leeren Händen vor einem leeren Teller sitzen, auf dem nur ein paar Krümel von einer kurzen brezeligen Last künden. Schon alleine deshalb hätte Lisbeth mehr Brezeln kaufen müssen, um zu verhindern, dass es zu dieser grausamen Stille kommt. Denn sobald der letzte Brösel sorgfältig aus dem Mundwinkel gefischt ist und das Kauen erstirbt, tun alle so, als würden sie angestrengt dem Ticken der Küchenuhr lauschen. Nur dumm, dass es eine digitale Uhr ist, die keinen Laut von sich gibt und mit ihrer roten Leuchtanzeige streng über die schweigsame Szene wacht.
Mein Hirn ist von der letzten Viertelstunde angestrengten Nichtstuns so lahm geworden, dass ich es nicht dazu bewegen kann, nach einer Fluchtmöglichkeit zu fahnden. Warten, heißt es. Denn jeder weiß, wer zuerst den Mund aufmacht, hat verloren, weil er ganz bestimmt das Falscheste sagt, was man an so einem Abend in so einer Runde sagen kann.
Wie geht es deinem Mann, fragt Wynni an Gwen gewandt.
Bingo, denke ich. Sie ist seit vier Monaten glücklich geschieden.
Schlecht, hoffe ich, erwidert Gwen. Sie scheint nicht einmal verärgert. Und deiner Trinksucht?
Autsch, das kann ja noch heiter werden, denke ich und bin gespannt, wie es weitergeht. Wynni ist kurz verdattert, dann breitet sich ein schiefes Grinsen auf seinem rötlichen Gesicht aus.
Besser, als deinem Mann, hoffe ich, sagt er. Und dann springt er plötzlich auf, als wäre er die ganze Zeit auf Nadeln gesessen. Er rennt aus der Küche und kehrt kurz darauf mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen und einer Flasche Rotwein zurück.
Wo wir schon davon reden, meint er, da hätte ich doch meinen hübschen Freund fast vergessen.
Ich habe den starken Verdacht, dass Wynni den Wein wieder mit nach Hause nehmen wollte, weil die Flasche ihm auf dem Weg hierher angefangen hat, leidzutun. Doch er scheint von der Brezel, die er nicht gegessen hat, Durst bekommen zu haben.
Warte, ich hole…
Aber Wynni unterbricht Lisbeth und deutet ihr mit der freien Hand, sich wieder zu setzen.
Brauchen wir nicht, sagt er und Lisbeth schaut ein bisschen verzweifelt. Wynni öffnet die Flasche mit seinem Taschenmesser. Darin ist er geübt, das sieht man. Ich muss unwillkürlich grinsen. Gwen wirft mir einen kurzen Blick zu und runzelt die Stirn. Damit sieht sie umwerfend aus. Schon als wir noch Kinder waren, habe ich es geliebt, wenn sie ihre Stirn auf diese Weise in Falten legte und mit nachdenklicher Miene vor sich hinstarrte. Alleine wegen dieser kleinen Geste habe ich fast ein Jahrzehnt lang vergeblich versucht, sie zu einem Date zu überreden. Verschütteter Kakao. Jedenfalls sieht sie jetzt, einen Ehemann, zwei Psychologen und drei Packungen Antidepressiva später immer noch umwerfend aus, sodass ich mir fast überlege, ob ich es nicht noch ein letztes Mal bei ihr versuchen soll. Eine frisch Geschiedene fühlt sich sicher oft einsam, oder?
Inzwischen reicht Wynni die Flasche im Kreis herum.
Gläser wären besser, denke ich, daran könnten wir uns wieder eine Weile festhalten. Aber das ist Wynnis Rache für die Brezeln.
Prost, sagt er und trinkt. Dann leckt er sich die Lippen und blickt auffordernd in die Runde.
Was gibt’s eigentlich bei dir Neues, alte Schachtel?
Seine Wahl fällt ausgerechnet auf mich und ich krame in meinem scheintoten Gedächtnis nach irgendetwas, das ich erzählen könnte.
Ich habe im Lotto gewonnen!
Das ist echt mies, aber was soll ich machen. Wynni rollt die Augen.
Ich weiß, Don. Das war vor 20 Jahren und es reichte grade mal für eine Flasche billigen Wodka!
Ich zucke die Schultern. Wynni ist mir egal. Ich möchte bei Gwen punkten.
Ich habe mein Schlafzimmer neu eingerichtet.
Ups, da war wohl ein bisschen zu direkt. Aber als Innenarchitektin steigt Gwen natürlich sofort darauf ein. Die Gute. Und was für Holz und welcher Tischler und was für Vorhänge. Du liebe Zeit.
Komm doch mal vorbei und schau’s dir an, lautet meine Antwort und ich komme mir billig und vollkommen unter meinem Niveau vor. Das macht sicher der Wein, dass ich solchen Stuss von mir gebe. Zum Glück steigt Gwen gar nicht erst darauf ein. Sie zieht nur die rechte Augenbraue hoch und in mir steigt auf einmal eine wohlbekannte Hitze auf. Genauso hat sie es jedes Mal gemacht, wenn sie mir eine Absage erteilt hat.
Gegen Ende habe ich sie nur mehr gefragt, um diese liebliche Bewegung ihrer Augenbraue sehen zu können. Ich habe schon fast vergessen, wie glücklich es mich immer gemacht hat, fast glücklicher, als mich eine Zusage hätte machen können. Ich muss lächeln und zu meiner unbändigen Freunde, wandert die Augenbraue noch ein Stück höher. Ich merke, dass Gwen überlegt, ob sie mich anspucken oder ignorieren soll. Schließlich macht sie einen halbherzigen Versuch, die Situation zu überspielen, den ich nur belächeln kann.
Lis, wie geht es denn deiner Großen, fragt sie, nichts Böses ahnend.
Lisbeth schluckt, dann hustet sie, ringt nach Luft und läuft dunkelrosa an. Die Farbe steht ihr nicht. Sie tut, als hätte sie einen Brösel im Hals. Dabei ist die gesamte Brezel längst in einem fortgeschrittenen Stadium der Verdauung. Lisbeth würgt und rennt aus der Küche. Gwen wirkt bestürzt.
Drogen, kläre ich sie auf und Gwen wird richtig bleich. Wynni hickst im Hintergrund.
Ich suhle mich in Gwens Unsicherheit. Wir hören ein lahmes Schluchzen aus dem Bad. Gwen eilt Lisbeth zu Hilfe. Wynni zuckt die Schultern und leert die Weinflasche.
Eigentlich haben sich meine Gedanken seit meiner Ankunft nur darum gedreht, wie ich so schnell wie möglich wieder verduften kann, ohne dass es taktlos erscheint. Aber mittlerweile wird es richtig interessant. Ein paar Fettnäpfchen und schon kommt die Tragödie ins Rollen.
Ich höre die Klospülung. Kurz darauf sind wir wieder zu viert. Lisbeth hat rote Augen. Gwen sieht grünlich aus.
Jetzt ist guter Rat unbezahlbar. Gibt es ein unverfängliches Thema? Wahrscheinlich nicht. Also schweigen wir. Keine Brezeln. Kein Wein, der das Ganze retten könnte und keine Äußerung, die die Stimmung explodieren lassen würde. Schade, dabei hat es so verheißungsvoll dramatisch begonnen. Jetzt versickert das ganze Potential wieder in den mit Salzkörnern gefüllten Küchenbodenritzen.
Es endet eindrucksvoll eindruckslos. Gwen verabschiedet sich, ohne dass ich es verhindern kann und ist so schnell weg, dass es unmöglich für mich ist, noch ein Wort mit ihr zu wechseln.
Also warte ich auf Wynni, der angeborene Gleichgewichtsstörungen hat und deshalb länger braucht mit seinen Schuhen. Lisbeth kann ihre Erleichterung darüber, uns los zu sein, kaum verbergen.
Wir tun so, als wäre es ein perfekter Abend unter besten Jugendfreunden gewesen und beteuern uns, so etwas schon bald zu wiederholen. Dabei hoffen wir insgeheim, dass der unglückselige Tag in unerreichbarer Ferne liegt, da irgendjemand auf die wahnwitzige Idee kommt, die anderen wiedersehen zu wollen.
Die Tür schlägt mit einer Wucht, die von Endgültigkeit kündet, hinter uns zu. Langsam steigen Wynni und ich die fünf Stockwerke hinunter und treten auf die laternenbeschienene Straße hinaus. Wynni geht rechts, ich gehe links – immer schon.
Nacht, sagt Wynni.
Machs gut, sage ich und weiß, dass er irgendwann im Straßengraben enden wird. Aber das ist sein Problem und das hat etwas Tröstliches.
Ich gehe heimwärts. Die Erinnerungen vergangener Jahre zerstreuen sich wie die zerknüllten Flugzettel und Zigarettenstummel auf dem Gehsteig. Und ich bin dankbar dafür. Es ist wie ein Auftauchen aus einem See voll Müll. Zwar verklebt mir der Geruch von Kaputtem und Vergammeltem noch die Augen, aber das gibt sich mit der Zeit. Bald bin ich wieder in meiner Welt, in der es weder Wynnis noch Lisbeths und leider auch keine Gwen gibt.
Ich winke dem Mann im Mond und weiß, dass er mich auslacht. Es beruhigt mich, dass jemand den Witz an der Sache sieht und ich lache mit. Dann biege ich um die Ecke und lasse heute gestern sein.
Morgen fängt wieder einmal eine neue Zukunft an. Und sie wird so lange dauern, bis einer von uns schwach wird und aus lauter Verzweiflung die Nummern der anderen wählt. Bleibt nur zu hoffen, dass ich bis dahin genug Geld für ein neues Telefon mit einer neuen Nummer habe – und natürlich, dass nicht ich der Verzweifelte bin.
(2010) Literaturpreis “Blattgold” der Grünen Jugend Baden