Brezelhaftes Gestern

Lisbeth stellt einen Teller mit drei Brezeln auf den Tisch.

Wir sind aber vier, denke ich. Eine stumme Anspielung: Wer zu langsam ist, den bestraft das Leben. Schnell lange ich zu. Gwendolyn führte ihre Brezel bereits zum Mund und Lisbeth versuche noch, ihre Gier hinter gespielter Langsamkeit zu verbergen.

Nur Wynfrid macht nicht einmal Anstalten, seine Hand auszustrecken und natürlich hat es nun auch keinen Sinn mehr, denn der Teller ist leer und das Geräusch von Zähnen, die sich durch Wände aus hart gebackenem Teig graben, und das leisen Fallen von Salzkörnern auf den frischgesaugten Küchenboden erfüllen den Raum.

Wynni trägt sein Schicksal gelassen. Mir kommt es sogar vor, als blitze ein spöttischer Funke in seinem linken Auge auf. Komisch, warum gerade im linken? Wynni war schon immer eher rechts angesiedelt. Vielleicht  nur, weil sich die Glühbirne darin spiegelt, weil es gar kein Spott ist. Aber ich kenne ihn zu gut, um zu wissen, dass Wynni niemals über den Dingen steht.

Der Gute. Schon im Kindergarten haben wir uns geschlagen. Wie die Zeit vergeht. Und Lisbeth! Noch in der Oberstufe habe ich sie für ihre Hasenscharte verlacht. Aber jetzt enttäuscht sie mich. Nur drei Brezeln? Ich muss innerlich den Kopf schütteln über so viel falsche Gastfreundschaft. Warum dann überhaupt Brezeln? Ohne hätten wir nun wenigstens alle das Gefühl, unerwünscht zu sein, hätten das Gespräch höflich aber bestimmt beenden und endlich nach Hause gehen können. Aber wie ein Gespräch beenden, das nie angefangen hat?

Wir verstecken uns hinter dem Krachen der Brezeln. Nur Wynni weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Ha! Jetzt ist er aber doch sauer, weil er nichts zum Festhalten hat. Allerdings muss gesagt werden, dass, so langsam ich auch versuche zu essen, meine Brezel immer weniger wird. Bald werden wir mit leeren Händen vor einem leeren Teller sitzen, auf dem nur ein paar Krümel von einer kurzen brezeligen Last künden. Schon alleine deshalb hätte Lisbeth mehr Brezeln kaufen müssen, um zu verhindern, dass es zu dieser grausamen Stille kommt. Denn sobald der letzte Brösel sorgfältig aus dem Mundwinkel gefischt ist und das Kauen erstirbt, tun alle so, als würden sie angestrengt dem Ticken der Küchenuhr lauschen. Nur dumm, dass es eine digitale Uhr ist, die keinen Laut von sich gibt und mit ihrer roten Leuchtanzeige streng über die schweigsame Szene wacht.

Mein Hirn ist von der letzten Viertelstunde angestrengten Nichtstuns so lahm geworden, dass ich es nicht dazu bewegen kann, nach einer Fluchtmöglichkeit zu fahnden. Warten, heißt es. Denn jeder weiß, wer zuerst den Mund aufmacht, hat verloren, weil er ganz bestimmt das Falscheste sagt, was man an so einem Abend in so einer Runde sagen kann.

Wie geht es deinem Mann, fragt Wynni an Gwen gewandt.

Bingo, denke ich. Sie ist seit vier Monaten glücklich geschieden.

Schlecht, hoffe ich, erwidert Gwen. Sie scheint nicht einmal verärgert. Und deiner Trinksucht?

Autsch, das kann ja noch heiter werden, denke ich und bin gespannt, wie es weitergeht. Wynni ist kurz verdattert, dann breitet sich ein schiefes Grinsen auf seinem rötlichen Gesicht aus.

Besser, als deinem Mann, hoffe ich, sagt er. Und dann springt er plötzlich auf, als wäre er die ganze Zeit auf Nadeln gesessen. Er rennt aus der Küche und kehrt kurz darauf mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen und einer Flasche Rotwein zurück.

Wo wir schon davon reden, meint er, da hätte ich doch meinen hübschen Freund fast vergessen.

Ich habe den starken Verdacht, dass Wynni den Wein wieder mit nach Hause nehmen wollte, weil die Flasche ihm auf dem Weg hierher angefangen hat, leidzutun. Doch er scheint von der Brezel, die er nicht gegessen hat, Durst bekommen zu haben.

Warte, ich hole…

Aber Wynni unterbricht Lisbeth und deutet ihr mit der freien Hand, sich wieder zu setzen.

Brauchen wir nicht, sagt er und Lisbeth schaut ein bisschen verzweifelt. Wynni öffnet die Flasche mit seinem Taschenmesser. Darin ist er geübt, das sieht man. Ich muss unwillkürlich grinsen. Gwen wirft mir einen kurzen Blick zu und runzelt die Stirn. Damit sieht sie umwerfend aus. Schon als wir noch Kinder waren, habe ich es geliebt, wenn sie ihre Stirn auf diese Weise in Falten legte und mit nachdenklicher Miene vor sich hinstarrte. Alleine wegen dieser kleinen Geste habe ich fast ein Jahrzehnt lang vergeblich versucht, sie zu einem Date zu überreden. Verschütteter Kakao. Jedenfalls sieht sie jetzt, einen Ehemann, zwei Psychologen und drei Packungen Antidepressiva später immer noch umwerfend aus, sodass ich mir fast überlege, ob ich es nicht noch ein letztes Mal bei ihr versuchen soll. Eine frisch Geschiedene fühlt sich sicher oft einsam, oder?

Inzwischen reicht Wynni die Flasche im Kreis herum.

Gläser wären besser, denke ich, daran könnten wir uns wieder eine Weile festhalten. Aber das ist Wynnis Rache für die Brezeln.

Prost, sagt er und trinkt. Dann leckt er sich die Lippen und blickt auffordernd in die Runde.

Was gibt’s eigentlich bei dir Neues, alte Schachtel?

Seine Wahl fällt ausgerechnet auf mich und ich krame in meinem scheintoten Gedächtnis nach irgendetwas, das ich erzählen könnte.

Ich habe im Lotto gewonnen!

Das ist echt mies, aber was soll ich machen. Wynni rollt die Augen.

Ich weiß, Don. Das war vor 20 Jahren und es reichte grade mal für eine Flasche billigen Wodka!

Ich zucke die Schultern. Wynni ist mir egal. Ich möchte bei Gwen punkten.

Ich habe mein Schlafzimmer neu eingerichtet.

Ups, da war wohl ein bisschen zu direkt. Aber als Innenarchitektin steigt Gwen natürlich sofort darauf ein. Die Gute. Und was für Holz und welcher Tischler und was für Vorhänge. Du liebe Zeit.

Komm doch mal vorbei und schau’s dir an, lautet meine Antwort und ich komme mir billig und vollkommen unter meinem Niveau vor. Das macht sicher der Wein, dass ich solchen Stuss von mir gebe. Zum Glück steigt Gwen gar nicht erst darauf ein. Sie zieht nur die rechte Augenbraue hoch und in mir steigt auf einmal eine wohlbekannte Hitze auf. Genauso hat sie es jedes Mal gemacht, wenn sie mir eine Absage erteilt hat.

Gegen Ende habe ich sie nur mehr gefragt, um diese liebliche Bewegung ihrer Augenbraue sehen zu können. Ich habe schon fast vergessen, wie glücklich es mich immer gemacht hat, fast glücklicher, als mich eine Zusage hätte machen können. Ich muss lächeln und zu meiner unbändigen Freunde, wandert die Augenbraue noch ein Stück höher. Ich merke, dass Gwen überlegt, ob sie mich anspucken oder ignorieren soll. Schließlich macht sie einen halbherzigen Versuch, die Situation zu überspielen, den ich nur belächeln kann.

Lis, wie geht es denn deiner Großen, fragt sie, nichts Böses ahnend.

Lisbeth schluckt, dann hustet sie, ringt nach Luft und läuft dunkelrosa an. Die Farbe steht ihr nicht. Sie tut, als hätte sie einen Brösel im Hals. Dabei ist die gesamte Brezel längst in einem fortgeschrittenen Stadium der Verdauung. Lisbeth würgt und rennt aus der Küche. Gwen wirkt bestürzt.

Drogen, kläre ich sie auf und Gwen wird richtig bleich. Wynni hickst im Hintergrund.

Ich suhle mich in Gwens Unsicherheit. Wir hören ein lahmes Schluchzen aus dem Bad. Gwen eilt Lisbeth zu Hilfe. Wynni zuckt die Schultern und leert die Weinflasche.

Eigentlich haben sich meine Gedanken seit meiner Ankunft nur darum gedreht, wie ich so schnell wie möglich wieder verduften kann, ohne dass es taktlos erscheint. Aber mittlerweile wird es richtig interessant. Ein paar Fettnäpfchen und schon kommt die Tragödie ins Rollen.

Ich höre die Klospülung. Kurz darauf sind wir wieder zu viert. Lisbeth hat rote Augen. Gwen sieht grünlich aus.

Jetzt ist guter Rat unbezahlbar. Gibt es ein unverfängliches Thema? Wahrscheinlich nicht. Also schweigen wir. Keine Brezeln. Kein Wein, der das Ganze retten könnte und keine Äußerung, die die Stimmung explodieren lassen würde. Schade, dabei hat es so verheißungsvoll dramatisch begonnen. Jetzt versickert das ganze Potential wieder in den mit Salzkörnern gefüllten Küchenbodenritzen.

Es endet eindrucksvoll eindruckslos. Gwen verabschiedet sich, ohne dass ich es verhindern kann und ist so schnell weg, dass es unmöglich für mich ist, noch ein Wort mit ihr zu wechseln.

Also warte ich auf Wynni, der angeborene Gleichgewichtsstörungen hat und deshalb länger braucht mit seinen Schuhen. Lisbeth kann ihre Erleichterung darüber, uns los zu sein, kaum verbergen.

Wir tun so, als wäre es ein perfekter Abend unter besten Jugendfreunden gewesen und beteuern uns, so etwas schon bald zu wiederholen. Dabei hoffen wir insgeheim, dass der unglückselige Tag in unerreichbarer Ferne liegt, da irgendjemand auf die wahnwitzige Idee kommt, die anderen wiedersehen zu wollen.

Die Tür schlägt mit einer Wucht, die von Endgültigkeit kündet, hinter uns zu. Langsam steigen Wynni und ich die fünf Stockwerke hinunter und treten auf die laternenbeschienene Straße hinaus. Wynni geht rechts, ich gehe links – immer schon.

Nacht, sagt Wynni.

Machs gut, sage ich und weiß, dass er irgendwann im Straßengraben enden wird. Aber das ist sein Problem und das hat etwas Tröstliches.

Ich gehe heimwärts. Die Erinnerungen vergangener Jahre zerstreuen sich wie die zerknüllten Flugzettel und Zigarettenstummel auf dem Gehsteig. Und ich bin dankbar dafür. Es ist wie ein Auftauchen aus einem See voll Müll. Zwar verklebt mir der Geruch von Kaputtem und Vergammeltem noch die Augen, aber das gibt sich mit der Zeit. Bald bin ich wieder in meiner Welt, in der es weder Wynnis noch Lisbeths und leider auch keine Gwen gibt.

Ich winke dem Mann im Mond und weiß, dass er mich auslacht. Es beruhigt mich, dass jemand den Witz an der Sache sieht und ich lache mit. Dann biege ich um die Ecke und lasse heute gestern sein.

Morgen fängt wieder einmal eine neue Zukunft an. Und sie wird so lange dauern, bis einer von uns schwach wird und aus lauter Verzweiflung die Nummern der anderen wählt. Bleibt nur zu hoffen, dass ich bis dahin genug Geld für ein neues Telefon mit einer neuen Nummer habe – und natürlich, dass nicht ich der Verzweifelte bin.


(2010) Literaturpreis “Blattgold” der Grünen Jugend Baden

Der Zaunkönig

Alle Menschen, die im Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund lebten, hatten ein hübsches kleineres oder größeres Grundstück und um dieses Grundstück war eine schnurgerade Grundgrenze gezogen, auf der ein ordentlich gestrichener Zaun stand – mal aus Holz, mal aus Draht und manchmal auch mit Kletterrosen bewachsen. Um jemanden zu besuchen, musste man am Gartentor läuten und bei Ertönen des Summens die gut geölte Gartenpforte öffnen, durch eine bienenumschwärmte Pergula oder zwei streng frisierte Buxbaumwächter hindurchtreten und dann dem kiesbestreuten Weg zum Haus folgen. Die Erwachsenen fanden das gut so. Die Kinder fanden das langweilig und unpraktisch.

Ach, wenn wir doch keine Zäune hätten, sagten sie, während sie sehnsüchtig einem Zaunkönig zuschauten, der auf einem Pfosten saß und vor sich hinsang, und dann quer über die Gärten davonflatterte. Ach wenn wir doch höhere Zäune hätten, sagten die Erwachsenen, die es nicht leiden konnten, dass jemand einfach so – ohne zu fragen –  über ihren Garten dahinflatterte.

Die Kinder hatten in ihrer Not schon viele neue Spiele erfunden. Zum Beispiel spielten sie Ball über den Zaun oder steckten sich Geheimbotschaften und Gummibärchen zwischen den Latten und Maschen durch. Aber irgendwann wurde das auch zu langweilig. Und als die Kinder größer und die Zäune im Vergleich dazu kleiner wurden, begannen sie, darüber zu klettern, wenn die Erwachsenen gerade mit anderen Dingen wie Steuererklärungen oder Leserbriefen beschäftigt waren. Allerdings konnte das nicht lange unbemerkt bleiben, weil die Holzzäune den Kletterpartien zwar ganz gut gewachsen waren, die Maschendrahtzäune jedoch bald ihre Spannung einbüsten. Die Kinder hatten auch schnell bemerkt, dass Kletterrosen, trotz ihres Namens, nicht allzugut für sportliche Betätigung geeignet waren.

Und die Erwachsenen nahmen also ihre Kinder beiseite und erklärten ihnen, dass die Zäune zu ihrem eigenen Schutz da wären, und dass es wichtig sei, gut auf sie aufzupassen. Schutz wovor, fragten die Kinder mit großen Augen. Na vor dem, was dahinter ist, sagten die Erwachsenen vage. Andere Kinder und Erwachsene, fragte die Kinder verblüfft. Und die Erwachsenen wanden sich mit schlechtem Gewissen aus der Affäre, indem sie die Kinder ans Hausübung-Machen oder Zimmer-Aufräumen erinnerten, und verdrängten die Erinnerung an jenen verblassenden Tag, an dem sie frierend und hungrig auf der Straße vor den Zäunen gestanden waren.

Die Kinder aber beschlossen, es selbst einmal anders zu machen.

***

Fünfzig Jahre später hatten alle Menschen, die im Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund lebten, ein hübsches kleineres oder größeres Grundstück. Die Grundgrenzen waren längst von Marghariten und Hahnenfuß überwachsen und um jemanden zu besuchen, konnte man einfach über die Wiese gehen und an die Tür klopfen. Alles, was im Garten lag, konnte von allen verwendet werden, und niemand hatte etwas vor den anderen zurückzuhalten. Das fanden alle gut so. Vor allem die Kinder, die in ihren ausgedehnten Spielen frei von Garten zu Garten liefen und überall freundlich empfangen wurden, in manchen Gärten sogar mit Kuchen und Himbeersaft, was dazu führte, dass sie sich dort besonders gerne aufhielten.

Bis eines Tages alles anders war.

Die Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund erwachten am Morgen und auf der Straße standen Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Sie sahen müde und hungrig aus und redeten in Sprachen, die die Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund nicht verstanden. Da sie aber großteils sehr offen und hilfsbereit waren, luden sie die Menschen in ihre Gärten ein, gaben ihnen zu essen und zu trinken, bauten Zelte für sie, damit sie sich ausruhen konnten, und schenkten den Kindern Spielsachen.

Am nächsten Morgen standen noch mehr müde, hungrige Menschen auf der Straße. Und wieder wurden sie hereingebeten, auch wenn es in manchen Gärten schon etwas eng wurde. Als aber am dritten Tag noch mehr Menschen auf der Straße standen, und mit ihren Blicken um Hilfe baten, begannen einige der Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund allmählich unruhig zu werden.

In meinem Garten ist schon alles voll, hieß es plötzlich von einer Nachbarin, die Angst um ihre üppige Tomatenernte hatte.

Bei mir ist auch kein Platz mehr, ließ sich ein anderer Nachbar vernehmen, der seine private Minigolfbahn bedroht sah.

Und so ging es immer weiter und immer mehr Stimmen vereinten sich zu einer wirren Kakophonie, die die Menschen auf der Straße abschrecken und in die anderen Gärten umleiten sollte. Weil das alleine aber nicht reichte, begannen viele Menschen provisorische Zäune aufzustellen, die ihre Grundgrenze markieren und andere am Betreten hindern sollten. Und die müden hungrigen Menschen drängten in die wenigen Gärten, die noch für sie offen standen und es war dort mittlerweile so eng geworden, dass sich kaum noch jemand bewegen oder einen Überblick behalten konnte. Und jeden Morgen standen mehr Menschen auf der Straße und wollten in die Gärten eingelassen werden, weil sie ihre eigenen Gärten verloren hatten.

Und aus den provisorischen Zäunen wurden blickdichte Mauern mit Glassplitterzinnen, gespickt mit Überwachungskameras. Und die Menschen vom Land der Goldenen Sterne auf Blauem Grund, die im Inneren dieser Festungen saßen, fühlten sich endlich wieder sicher. Die Kinder aber fanden die Mauern außerordentlich dumm. Die Erwachsenen erklärten ihnen geduldig, dass sie nur zu ihrem eigenen Schutz da wären. Schutz wovor denn, fragten die Kinder. Und die Erwachsenen stellten mit Schrecken fest, dass sie selbst mit ihren eigenen Eltern eben dieses Gespräch geführt und sich daraufhin geschworen hatten, es selbst einmal anders zu machen. Aber dann unterdrückten sie das schlechte Gewissen und schickten die Kinder Hausaufgaben machen oder Zimmer aufräumen.

Die Kinder aber beschlossen, es selbst einmal ganz anders zu machen.


(2016)

Sturmbraut

Eleonora Herbst war im Lehnstuhl eingenickt. Das Buch in ihren schlaffen Händen rutschte im Takt der Pendeluhr Millimeter für Millimeter die sanfte Neigung ihrer Oberschenkel entlang. Dabei hatte sie wach bleiben wollen, für den Fall, dass er zurückkehrte.

Der unterrockartige Lampenschirm auf dem hohen Messingfuß streute weiches Licht in den Raum. Ein Blinzeln lang imitierte die Glühbirne das Flackern einer Kerzenflamme. Die Buchseiten flatterten im Luftzug, der durch die haarfeine Ritze unter dem Fenster gekrochen kam. Ein kühler Gruß. Er war im Anmarsch.

Das Gartentor quietschte. Doch er kam nicht über den Kiesweg. Seine Schritte waren lautlos. Und Eleonora Herbst schlummerte unbekümmert. Unter dem gehäkelten Schultertuch hob und senkte der Atem ihren schmalen Brustkorb, samt dem dicken weißen Zopf, der darauf ruhte. Nur das Buch näherte sich unaufhaltsam den schroffen Klippen ihrer Knie, die sich unter dem geblümten Stoff des Morgenmantels abhoben.

In der Pendeluhr ratterte das Gewicht einen Zahn höher. Noch ein Flackern. Die Schatten sprangen aufgeregt durch den Raum. Eleonora Herbst seufzte im Schlaf. Und ein Ächzen ging durch das Haus, breitete sich vom Lehnstuhl über Böden und Wände aus. Die uralten Holzdielen gähnten, die dunklen Deckenbalken stöhnten, ein wenig Kalk rieselte neben dem gerahmten Schwarz-Weiß-Foto von der Wand.

Es zeigte einen jungen Mann in Soldatenuniform mit kurz geschorenem Haar und einem Orden an der Brust. Er hielt sich aufrecht wie ein Sarg, mit geschlossenen Beinen, die Stiefelspitzen leicht nach außen gedreht und blickte auf die Schlafende herab, als wollte er ihr im nächsten Moment befehlen, Habtacht zu stehen.

Das Buch schwebte bis zur Hälfte über dem Abgrund, hielt sich in einer fragilen Balance. Etwas klapperte gegen die Scheibe. Der linke Fensterladen hing lose vom letzten Besuch. Kaputtmachen, das konnte er. Und er verstand weder Bitten noch Drohungen, hatte Eleonora Herbst als Antwort bloß an den Haaren gerissen, ihr das Tuch von den Schultern geschleudert. Vergessen waren die Verspieltheiten von einst, der geflüsterte Austausch von Neckereien. Sein dröhnendes Lachen hatte ihren Fluch verschlungen.

Doch Eleonora Herbst wusste sich zu schützen. Er mochte toben wie er wollte, ihr die geliebten Winden herunterreißen oder die frische Bettwäsche von der Leine stehlen, aber ins Haus ließ sie ihn nicht mehr. Zu jeder Jahreszeit hielt sie Fenster und Türen fest verschlossen und kein Heulen, kein Knurren, kein Klopfen konnte sie erweichen.

Da mochten die Leute denken, was sie wollten. „Aber Frau Herbst, es ist Frühling“, hatten sie gespottet, bevor sie ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Sie war sich selbst genug und die Welt jenseits ihres Gartens kümmerte sie nicht mehr.

Das Buch wankte auf den Knieklippen, unentschlossen zwischen Ruhe und Sturz. Alles verharrte in angespannter Stille. Dann ein Knall. Der Fensterladen hatte sich gänzlich losgerissen. Eleonora Herbst schreckte hoch. Die Sekunden liefen mit einem Mal schneller durch die Pendeluhr. Echoten gehetzt durch ihren Brustkorb. Das Licht aus der Lampe zitterte und erlosch. Das Buch stürzte ins Dunkel.

Eleonora Herbst spürte winzige Gänsefüßchen über ihre Unterarme trippeln. Ihre linke Hand tastete nach der Schnur mit der seidigen Quaste, aber die Lampe blieb dunkel. Kälte kroch ihre Beine herauf. Sie hörte ihn ums Haus schleichen, horchte mit angehaltenem Atem.

Er trommelte ans Fenster. Sehen konnte er sie nicht, aber er musste wissen, dass sie da saß, in der Finsternis, die er wie ein engmaschiges Netz über sie geworfen hatte. Er rüttelte kräftig am Fensterrahmen, ließ das Glas beben, dann stieg er weiter, prügelte die blecherne Regenrinne und orgelte auf ihrem Dach, die Kamine, Rohre und Ritzen zu seinen gefügigen Pfeifen missbrauchend. Sein Spiel peitschte eisig durch Eleonora Herbsts Knochen. Die Schwärze drückte auf ihre Kehle.

Ein paar Schindeln polterten auf den Weg. Sie hörte sein Lachen ums Haus brausen und zwang sich mit grimmiger Entschlossenheit aus ihrer Starre. Die Dunkelheit schmeckte schal, doch Eleonora Herbst sog sie ein, bis die Lungenflügel prall waren, und stieß sie mit einem kleinen Schrei wieder aus.

Ihre rechte Hand tastete nach dem geschwungenen Messinggriff der Kommode. Ihre Fingerkuppen berührten den kühlen Lack. Holz rieb sich an Holz, als sie die oberste Lade ein Stück weit herauszog. Ihre Finger glitten über den Kunststoffgriff der Lupe, über die Pillendose mit dem gewölbten Deckel, über einen kleinen Vorrat quadratisch gefalteter Stofftaschentücher – und fanden.

Eleonora Herbst knipste die Taschenlampe an und blinzelte einen Moment in den Kegel aus Licht, der sich schützend zwischen sie und die Schatten stemmte. Dann senkte sie den Strahl und streckte sich nach dem Buch. Ihre Fingerspitzen berührten den Einband. Sie spürte ein dumpfes Stechen im Rücken, dehnte sich noch weiter und bekam das Lesebändchen zu fassen. Mit einem angestrengten Ruck richtete sie sich auf und das Buch raschelte anklagend mit den verknitterten Seiten. Sie streifte besänftigend über das aufgewühlte Papier und blätterte nach der richtigen Stelle.

Der Soldat auf dem Foto beobachtete sie dabei, als wollte er ihr jeden Moment das Buch aus den Händen schlagen. Eleonora Herbst räkelte sich in der weichen Polsterung und rückte die Taschenlampe zurecht. Sollte er doch poltern. Sie hatte die richtige Seite gefunden.

Die Pendeluhr schlug 3. Aber Eleonora Herbst hörte weder die Zeit noch den einsetzenden Regen. Sie hörte auch nicht, wie das Bild von der Wand fiel und das Glas in tausend Stücke zersprang.


Aus: (2019) Wind. Herausgegeben von Forum Land, Arbeitskreis Kultur in den Dörfern. Wien: Österreichischer Agrarverlag, S. 25-27.

Die kleinere Angst

Im Schein der Duftlampe, die den Raum in einen luftigen Lavendelschleier hüllt, tanzt das Mobile über dem Kinderbett und wirft verzerrte Schatten an die Wände. Die Spieluhr verklingt im Schweigen der Wartenden. Die Elefanten und Giraffen auf der Tapete blicken auf und lauschen. Zwischen den Kuscheltieren auf dem Regal erhebt sich ein feines, flüsterndes Rascheln. Alle halten den Atem an, sogar die rote Lokomotive in ihrem Bahnhof aus Legosteinen.

Das Kind regt sich, bewegt sich und strampelt die Decke von sich, greift mit beiden Armen nach kühler Luft und klatscht sie sich ins Gesicht. Die Fische auf dem Mobile fliehen vor der  Hitze der Wangen. Zwei salzig glitzernde Fäden tränken das durstige Rot. Die Teddybären recken tröstend die Pfoten nach dem Kind, aber es sieht nicht.

Zitternd steigt es aus dem Bett, kämpft um das Gleichgewicht und um den Atem und kniet neben dem Puppenwagen nieder. Lotte ist die einzige, die noch schläft. Niemand hat gewagt, sie zu wecken. Und auch das Kind streicht ihr so sanft über die schwarzen Stirnfransen, dass sie in ihren Träumen nicht gestört wird. Alle wissen, dass sie noch früh genug erwachen wird.

Es regnet leise auf Lottes schöne, weiße Hände, als sie zärtlich aus ihrer Ruhestatt gehoben wird hinein in eine schützende Umarmung.

Das Kind schiebt die Vorhänge zur Seite und blickt in die Schwärze hinaus. Einige schwere Atemzüge lang wartet es voll Furcht. Dann tritt der Mond blass und krank aus seinem Wolkenbett und winkt. Und alle wissen, dass der Abschied nahe ist. Die Giraffen und Elefanten schweigen vor Schreck, die Teddybären und die rote Lokomotive bleiben stumm in ihrem Kummer.

Das Kind öffnet das Fenster. Ein Stern ist aufgegangen. Ein kleiner, roter Stern, der sich mit aller Kraft an den schwarzen Samt des Himmels krallt. Er darf noch nicht fallen, denn er muss den Weg weisen. Die Kerze in der Duftlampe flackert, als der Wind ins Zimmer fährt und die Vorhänge bauscht. Die Lavendelwolke verschmilzt mit dem Atem der Lichtlosigkeit und folgt den Fliehenden in die Nacht.

Das Zimmer bleibt dunkel und voll Tränen zurück. Das Mobile steht still. Das vertraute Schweigen verstummt. Die Fensterscheibe starrt blind in den Raum und sieht nur endlose Leere.

Woher, wohin, wozu? Das Gras ist angenehm kühl auf den heißen Fußsohlen und der Tau stillt den brennenden Durst. Die Apfelblüten schimmern zerbrechlich durch das Dunkel des Gartens. Das Haus wird zum Schatten einer fremden Vergangenheit. Nichts als ein fahles Traumgespinst, erloschene Heimat, die sich zerstäubt wie eine Wolke im Spiel der Winde. Vergiss.

Am Gartentor wartet Anna. Sie hat ihre Puppe im Arm und weint. Das Kind geht, Lotte an sich gedrückt, neben ihr die Straße entlang. Sie gehen Hand in Hand. Beide zittern. Anna weil sie friert und das Kind weil es mit der Hitze nicht fertig wird. Beide zittern vor Angst. Die Häuser haben ihnen die Rücken zugekehrt. Die Gartenzäune knurren leise. Die Fensterhöhlen starren wie tote Augen.

Am Ende der Straße wartet Jonas. Er hat den Leiterwagen mitgebracht. Anna und das Kind betten die Puppen hinein. Dann tauchen sie zu dritt in den Nebel. Die Häuser lösen sich in milchige Fetzen auf und die Bäume knarren unsichtbar. Der rote Stern glüht durch das Dunstgespinst: Folgt mir.

Der Leiterwagen ist schwer, aber die Puppen schlafen arglos. Jonas, Anna und das Kind ziehen den Leiterwagen gemeinsam. Sie halten sich an der Hand und sie halten sich aneinander fest. Sie stolpern immer wieder. Jonas stolpert weil er müde ist, Anna stolpert weil sie schwach ist, das Kind stolpert weil es krank ist. Alle drei stolpern weil sie Angst haben. Und niemand wagt zu fragen, wohin es geht und wohin sie gehen. Im Schweigen liegt die Hoffnung, dass es auf die Antwort nicht ankommt. Aber sie kommen an die Stelle, an der sie sich fragen müssen.

Da sind drei Brücken.

Wohin wollt ihr gehen, fragt der Fluss, nach Norden, wo die sind, die euch hassen oder nach Osten wo die sind, die ihr hassen müsst?

Ist es nicht besser, fragt die Nacht, durch jenes Land zu gehen, das ihr hassen müsst, als durch jenes, in dem ihr gehasst werdet?

Wir wollen nicht gehasst werden, flüstern die Reisenden. Gebt uns ein paar Äpfel und Nüsse für den weiten Weg und einen blühenden Kirschzweig als Friedensfahne. Wir wollen nicht hassen, wir gehen durch die Mitte.

Anna zieht den Leiterwagen, Jonas schiebt den Leiterwagen. Das Kind liegt bei den Puppen im Leiterwagen, es ist so fiebrig heiß und schwach. Die Brücke liegt hinter ihnen. Aber nach der Brücke kommt nichts mehr. Es gibt keinen Mittelweg. Norden oder Osten – dazwischen ist nicht die Mitte, sondern der Abgrund. Ein Weilchen noch schleppen sie sich vorwärts. Der Weg ist steinig. Die Felder liegen wüstengleich vor ihnen. Und irgendwann bleiben sie stehen und können nicht mehr weiter. Sie nehmen ihre Puppen in den Arm. Sie nehmen sich gegenseitig in den Arm, bis ihre Arme zu schwach sind. Sie weinen, bis ihre Augen ausgetrocknet sind und ihre Kehlen keinen Laut mehr hervorbringen können.

Bei Morgengrauen heben sich die Nebel. Bald werden SIE kommen und die Puppen  fortnehmen, die sie doch beschützen wollten. Anna ist eingeschlafen. Jonas lehnt an ihrer Schulter.

Das Kind sieht Fische vorbeischwimmen und Giraffen besorgt die Hälse recken. Es riecht nach Duftlampe wie damals. Ein Gesicht schwebt herbei. Es duftet nach Lavendel.

Mutter, liebe Mutter, will das Kind rufen, du musst der Puppe helfen. Aber es ist zu schwach. Es ist selber nur mehr eine Puppe, eine schlafende Puppe, die beschützt werden muss. Die Mutter nimmt das Kind vorsichtig aus dem Bett und wiegt es in den Armen. Sie kühlt seine heiße Stirn und singt ihm ein Lied, schöner als alle Spieluhren der Welt. Die Teddybären und Fische seufzen. Die Elefanten und Giraffen lauschen still. Das Lied der Mutter trägt das Fieber fort, trägt die Angst fort und den Traum. Lotte ist in Sicherheit. Der blasse Mond huscht zurück in sein Wolkenbett und der rote Stern versinkt ungesehen im Morgenmeer.


Aus: (2010) Fieber. Herausgegeben von Forum Land, Arbeitskreis Kultur in den Dörfern. Wien: Österreichischer Agrarverlag, S. 59-62. 

KUSS

leise tropft
die Zeit
aus deinem Mund

und nur mein Mund
um sie
aufzufangen

aus: Silberstreifen (2015)


BESO 

en silencio gotea
el tiempo
de tu boca

y sólo mi boca
para
atraparlo

Ins Spanische übersetzt und gelesen von
Jordi Rabasa-Boronat (2020)


BES

en silenci degoteja
el temps
de la teva boca

i sols la meva boca
per
atrapar-lo

Ins Katalanische übersetzt und gelesen von
Jordi Rabasa-Boronat (2020)

PERLENTAUCHERIN

du öffnest mir
dein Schweigereich

wellenweicher Tiefenrausch
in nachtklarer Zweisamkeit

aus: Silberstreifen (2015)


BUSCADORA DE PERLAS

me abres
tu reino de silencio

embriagada de profundidad
suave como las olas

ambos en la noche clara

Ins Spanische übersetzt und gelesen von
Jordi Rabasa-Boronat (2020)


BUSCADORA DE PERLES

m’obres
el teu regne de silenci

embriagada de profunditat
suau com les ones

 ambdós en la nit clara

 Ins Katalanische übersetzt und gelesen von
Jordi Rabasa-Boronat (2020)